Nanjing

Begonnen von Icor, 30. Oktober 2007, 12:00:03

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Icor

Zweiligist in der ersten Liga
Nanjing ist Nummer 3 der Wirtschaftsstandorte


Mit Schwarzwälder Kirschtorte, Brezeln und Rittersport missionieren Baden-Württemberger während der Deutschlandwochen in ihrer Partnerstadt Nanjing für deutsche Ess- und Lebenskultur. Kanzlerin Merkel eröffnete in der Stadt die deutsche Promenade, und neben der Politprominenz wurde auch ein echter deutscher Konditormeister aus Baiersbronn eingeflogen. Vor der neuen Bibliothek und dem alten Präsidentenpalast präsentieren sich Unternehmen, Bundesländer und Institutionen.



Eigentlich braucht Nanjing in Sachen Deutschlandkontakte keinen Nachhilfeunterricht. Fast jedes zweite deutsche Unternehmen in China hat seinen Sitz im Jangtse-Delta. In der Hauptstadt der Provinz Jiangsu haben sich in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche deutsche Firmen angesiedelt, bei der Auslandshandelskammer in Shanghai sind allein 60 Unternehmen gemeldet. Der Firmenpool des Büros für Wirtschaftsförderung des Landes Baden-Württemberg hat gerade sein zwölftes Mitglied aufgenommen, wie Julia Güsten, seit 1996 Repräsentantin in Nanjing, stolz erzählt. Insgesamt hat die Provinz Jiangsu bis Ende 2006 über 990 deutsche Direktinvestitionen angezogen (Shanghai: 933).
Zusammen mit Hangzhou und Shanghai formt die Sechs-Millionen-Stadt das erfolgreichste Wirtschaftsdreieck Chinas. Diese Schwergewichte belegen die ersten drei Plätze des neuen Forbes-Rankings der erfolgreichsten Wirtschaftsstädte Chinas im Jahr 2007. Nanjing ist gegenüber dem Vorjahresranking vom sechsten auf den dritten Platz vorgerückt. Besonders ins Gewicht fiel dabei der hohe Anteil qualifizierter Arbeitskräfte. Nanjinger genießen von jeher den Ruf einer Bildungselite im Land. Die Nanjing University gehört zu den Spitzenhochschulen Chinas: Kaum eine andere Universität produziert so viele akademische Publikationen wie die Nanda, Absolventen sind hoch angesehen und gefragt.
Für die Verwaltung gibt es hingegen keine Bestnoten: Was Steuern und Abgaben, Zollverwaltung und Austausch mit Behörden angeht, erreichte Nanjing in einer Weltbankstudie von 2006 in der Verwaltungseffizienz nur Platz 40 von 120 untersuchten Standorten beziehungsweise Platz 21 beim Investitionsklima aus Sicht ausländischer Firmen.
Nanjings Wirtschaftswachstum liegt mit 15 Prozent im vergangenen Jahr deutlich über dem chinesischen Durchschnitt von zehn Prozent, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist mit knapp 6.500 US-Dollar dreimal so hoch wie im Landesdurchschnitt. Zwar zog Nanjing im vergangenen Jahr weniger Großprojekte aus dem Ausland an als in den Vorjahren, insgesamt stiegen die zugesagten und realisierten Direktinvestitionen jedoch um ein Fünftel.



Ganz oben behauptet

Formal gehört Nanjing zwar wie andere Provinzhauptstädte zu den so genannten Second Tier Cities, doch bei Auslandsinvestitionen ist die Stadt ein klarer Erstligist. Der Anteil ausländisch investierter Unternehmen am Export liegt in Jiangsu bei 75 Prozent. In Shanghai sind es 68 und in Zhejiang 35 Prozent.
Die Mischung aus Investitionsförderung in den Industrieparks und der Pool preiswerter, gleichwohl gut ausgebildeter Fachkräfte hat internationale Größen wie BASF, Bosch, Siemens und jüngst ThyssenKrupp angezogen, so dass es für kleinere Firmen zunehmend schwieriger wird, mit Investitionsprojekten ein offenes Ohr bei Niederlassungswünschen zu finden.
Nanjing ist heute neben Shanghai der zweite Schwerpunkt der Automobilindustrie im Jangtse-Delta. ThyssenKrupp will dort ab 2009 Kurbelwellen für Lastwagen fertigen und kündigte im August Investitionen von 130 Millionen Euro an. Im September hat Ford seine neue Produktionslinie aufgenommen. Bei dem 510 Millionen-US-Dollar-Joint-Venture mit Changan Automotive Group und Mazda sollen pro Jahr künftig 160.000 Kleinwagen vom Band rollen.
Auch das kränkelnde Fiat-Joint-Venture mit der Nanjing Automobile Corp. hat jüngst durch die neue Verbindung der Italiener zum chinesischen Autoproduzenten Chery neuen Auftrieb bekommen. Fiat Nanjing will künftig von Chery Motoren und Getriebe beziehen und damit die Produktion ankurbeln. Nanjing Auto konzentriert sich derweil auf die Vermarktung der MG7, nachdem das Unternehmen vor zwei Jahren Großbritanniens letzten unabhängigen Autohersteller MG Rover übernommen hatte. 200.000 Autos sollen die 4.500 Arbeiter vom Stadtteil Pukou aus künftig auf Chinas Straßen bringen.


Auf dem Weg zum Weltbüro

Die Nanjinger Expats, verwöhnt von vergleichsweise gemächlichen Preisentwicklungen, beobachteten den Aufschwung der Autohersteller zunächst mit Argwohn. »Viele Unternehmen hatten Angst, dass Ford in Nanjing die Preise verdirbt und qualifizierte Arbeiter abwandern«, beobachtet Julia Güsten. Doch diese Befürchtungen hätten sich bislang nicht erfüllt, der Arbeitsmarkt habe sich bereits wieder beruhigt. Klar ist jedoch, dass die Ressource Arbeitskraft nicht unerschöpflich ist. Nachdem die Stadt jahrzehntelang Auslandsinvestitionen hauptsächlich mit billiger Arbeitskraft und großzügigen Landflächen angezogen hat, wird derzeit der Strukturwandel in Richtung Dienstleistungsgesellschaft eingeleitet. Bis 2010 (dann endet das elfte Fünfjahresprogramm) will die Stadt ein Service-Outsourcing-Center mit 150 Unternehmen und einem Gesamtgeschäftsvolumen von rund 40 Milliarden Yuan aufbauen. 200.000 Beschäftigte sollen hier arbeiten.
Damit beginnt der Wandel von der Werkbank der Welt zum Weltbüro, wie es der Nanjinger Wirtschaftswissenschaftler Liu Zhibiao formulierte. Nanjing wird eines der zehn chinesischen Zentren für Outsourcing von Informationstechnologie, Digitalisierung, Biomedizin, Logistik und Finanzen. Neu ist das Thema nicht. 2006 wurden in Jiangsu mit Outsourcing in der Softwareentwicklung und IT-Service-Industrie bereits 200 Millionen US-Dollar umgesetzt. Zentren sind neben Nanjing Wuxi und Suzhou. Schon heute erwirtschaftet Nanjing fast 48 Prozent seines BIP im Dienstleistungsbereich. In Shanghai sind es 50,6 und im Landesdurchschnitt 39,5 Prozent. In Nanjings IT-Branche tummeln sich Motorola, Nandasoft, Net Giant Software, Samsung, Lucent, IBM, Siemens, LG und Sharp.
Auch die Versicherungsbranche wirft begehrliche Blicke auf die großen Regionalstädte, die mehr Wachstum bei weniger Konkurrenz versprechen. Der kanadische Finanzdienstleister Sun Life prognostiziert für das Geschäft mit Lebensversicherungen ein Wachstum von bis zu 70 Prozent in den Provinzhauptstädten. Allianz China Life treibt ebenfalls die Regionalisierung voran und will nach Lizenzerteilung Ende Juli von Nanjing aus den Markt für Lebensversicherungen in Jiangsu aufrollen.



Wichtiger Verkehrsknoten

Nanjing ist seit jeher ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die Stadt ist der Brückenkopf auf der Achse von Shanghai ins Landesinnere. Dabei profitiert Nanjing indirekt von dem vor eineinhalb Jahren eröffneten Yangshan-Containerhafen Shanghais, der den Jangtse-Anrainern deutlich mehr Geschäft bringt. Behörden sprechen sogar von einer Vervierfachung des Frachtvolumens. Ein fieberhafter Brücken- und Tunnelbau über und unter dem Jangtse sorgt dafür, dass die Logistik mit der Nachfrage langfristig mithalten kann. Nach der im Jahr 1968 fertiggestellten ersten Jangtse-Brücke folgte 1999 die zweite und 2005 eine dritte, die Yangzhou mit Zhenjiang verbindet. Ende Oktober soll nun eine der beiden Tunnelbohr-Maschinen des deutschen Spezialmaschinenherstellers Herrenknecht anlaufen. Die 3.300 Tonnen schwere und 130 Meter lange Mixschild-Maschine wird den ersten der beiden geplanten dreispurigen Straßentunnel mit einer Länge von knapp drei Kilometern vorantreiben.
Der südkoreanische Elektronikkonzern LG hat im September ein neues Logistikzentrum in Nanjing eingeweiht. Von hier aus soll die Produktion aus Shanghai, Huizhou, Taizhou und Tianjin in den südchinesischen Markt kanalisiert werden. Von den Umschlagskapazitäten steht Nanjing nach dem Forbes-Ranking heute auf Platz zehn von 194 bewerteten Städten.
Dem Bau-Boom zum Trotz hat sich Nanjing viel von seinem Charme bewahrt. Doch wie in allen chinesischen Großstädten drängt die Bauwirtschaft voran. Eine zweite U-Bahnlinie ist in Arbeit, der neue Bahnhof erhebt sich mächtig über dem Westsee und spiegelnde Glaspaläste säumen die Straßen zum Xinjiekou.



Anja Feldmann


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